Kunst im Karner - Oktober 2004 - Josef Mikl - Christusfigur

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Christusfigur - Kreuzfigur - Biografie Josef Mikl - Meditationstext Christusfigur von Joop Roeland

 

Meditation von Pater Joop Roeland

Rektor von St. Ruprecht in Wien

Vom Sehen

Die Einladung an diesem Abend mit Ihnen ein Bild des Malers Mikl zu betrachten und bei diesem Bild meditierend zu verweilen hat mich vor einigen Monaten sehr gefreut. Ich dacht darüber nach, was wohl das Thema dieser Meditation sein könnte und hatte mich bald zum Thema "sehen" entschieden. Aber siehe da! Nun ergab sich, dass gerade zu jenem schon ausgemachten Termin ich eine Augenoperation erleben sollte, eine harmlose, aber immerhin so, dass man zur selben Zeit nicht mit Philosophien über das Sehen aufwarten könne. So habe ich meine Gedanken dazu im voraus zusammengeordnet und bitte, sie an jenem Abend (heute!) zur Sprache bringen zu dürfen.

Schon oft habe' ich Wien-Besucher durch die Stadt geführt, besonders durch die Innere Stadt, die City, wie sie jetzt im Touristendeutsch oft genannt wird. Dabei lernt man selbst sehr viel, wenn man beobachtet, wie jeder Tourist seinen eigenen Blick für gewisse Dinge hat.

Eine Tante staunte bei allen großen Räumen, egal ob Hofburg oder Stephansdom: "Wie halten die das sauber?" Dabei dachte sie wohl an die tägliche Pflege ihres Haushaltes in der kleinen Amsterdamer Wohnung.

Ein emeritierter Universitätsprofessor dagegen erklärte vor der Wienbesichtigung, dass ihn Gebäude nicht interessieren. Da bleibt dann bei einem Wien-Rundgang an Herzeigbarem sehr wenig übrig. Bis der Professor selbst auf den Gedanken kam, in der Nationalbibliothek nachzuschauen, welche seiner Bücher dort vorhanden seien. In der Bibliothek verbrachte der Forscher dann glückliche Stunden, wie zu Hause.

Pflegeleicht war der Besuch eines fleißigen, korrekten Lehrers. Er hatte sich vorbereitet wie für die Schule. Er brauchte nur das Programm, den Lehrplan sozusagen, durchzuziehen. Da er wirklich fleißig war, gelang es ihm einmal, einen Plan für zwei Tage in einem Tag abzuwickeln. Am Abend erklärte er zufrieden: "Morgen habe ich einen freien Tag!' Wie ein Arbeitnehmer vergnügt über die unerwartete Freizeit, verbrachte er den Tag im Schanigarten mit Kaffee und Zeitungen. Das war wohl der schönste Tag seines Wien-Besuches.

Es hat jeder Tourist seinen eigenen Blickwinkel. Mit allem Reisegepäck hat er auch diesen von zu Hause mitgenommen. Der Blickwinkel heute Abend ist allerdings nicht der Blickwinkel einer putzenden Tante oder eines neugierigen Touristen. Ich möchte versuchen bei den wirklichen Ausblicken unseres Sehens anzusetzen. Dreifach ist dieses Sehen. Darüber möchte ich mit Ihnen nachdenken.

"Das Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein ganzer Körper hell sein." So steht es in der Bergpredigt bei Matthäus. Das Wort sagt auch, wie Sehen eine lebendige Wirksamkeit des Menschen ist. Ein Mensch sieht nicht, wie ein Fotogerät "sieht": mechanisch. Das Auge eines Menschen hat seine Wurzeln im Herzen des Menschen, meint Guardini. Wenn das Herz eines Menschen böse ist, sieht er alle Dinge böse. Wenn das Herz eines Menschen gut ist, sieht er alles gut.

Oft sehen wir nicht gut, weil unser Herz uns nicht sehen lässt. Wir haben Vorurteile. Lebenslänglich hat mich ein Wort beeindruckt, das ich in jungen Jahren einmal hörte: Viele Menschen haben, statt Augen, Standpunktprothesen. Im Markus-Evangelium wird uns über die Heilung eines Blinden erzählt. Der Heilungsprozess vollzieht sich stufenweise. Zuerst sieht er die Menschen, aber verschwommen, dann aber genau (Mk 8).

Geht es uns nicht oft so?

"Solange ich noch allein bin, bin ich noch allein. Solange ich noch unter Bekannten bin, bin ich noch ein Bekannter. Sobald ich auf die Straße trete, tritt ein Fußgänger auf die Straße. Sobald ich in die Straßenbahn einsteige, steigt ein Fahrgast in die Straßenbahn.

Sobald ich das 'Warenhaus betrete, betritt ein Kauflustiger das Warenhaus." So beginnt. ein längerer Text aus dem Jugendwerk von Peter Handke.

Geht es uns nicht oft so? Sehen wir andere Menschen nicht meistens nur in ihrer Funktion. Als Fußgänger, als Fahrgast, als Kauflustiger usw.? Und werden wir nicht meistens nur so von anderen gesehen?

Wir wollen oft auch nichts anderes als diese Anonymität, diese Namenlosigkeit. Ich habe ein Gesicht für Hochzeiten und für Beerdigungen, für Partys und für etwas Kulturelles. Ich habe einen Schrank voller Gesichter, und ich bin sehr vorsichtig damit. Denn ein Mensch darf sein Gesicht nicht verlieren.

Deshalb respektieren wir auch die Gesichter der anderen.

Zu dem Besuch sagen wir: "Besuch, lege doch bitte deinen Mantel ab." Aber wir sagen nie: Besuch, lege doch bitte dein Gesicht ab." Denn schließlich sind wir keine Kopfjäger, wir sind zivilisiert.

All diese Gesichter, die ich habe, all diese Rollen, die mir auferlegt werden: Sie sind nicht ich. Wenn wir einander doch sehen könnten, immer genauer, als Menschen...

Über ein letztes Sehen hören wir im Johannes-Evangelium. Beim letzten Zusammensein, schon mit dem Tod vor Augen, wird Jesus von Philippus gefragt: "Herr, zeig uns den Vater." Und Jesus: "Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen." Alles Suchen, alles Heimweh des menschlichen Herzens liegt in dieser Frage von Philippus. Aber die Antwort Jesu gilt auch uns: Wer auf ihn, schaut, wird nicht geblendet. Er lernt sehen. Ihm gehen die Augen auf.

Ich bin ein Schaulustiger. Die Tätigkeit des lustigen Schauens übe ich besonders auf Christkindlmärkten aus, vielleicht auch deswegen, weil solche Märkte in meiner niederländischen Heimat unbekannt sind. Darum wurde ich ein Schaulustiger mit Nachholbedarf. Nun, wenn ich übereinen Christkindlmarkt gehe, überlege ich mir oft, was für eine Marktbude ich hier führen möchte. Eine mit singenden Christbäumen aus Plastik, wie ich einen sah? Aber wer will schon in seiner Wohnung einen singenden Christbaum haben? Es wäre wohl sinnvoller, eine Bude mit Weihnachtsdekoration zu führen, mit Kerzen, mit Christbaumschmuck, mit Strohsternen und zerbrechlichen Kugeln. All diese Farben ...

Dort könnte man das Sehen wieder lernen. Tatsächlich, eine solche Bude möchte ich am Christkindlmarkt betreuen, eine Bude, wo die Leute das Sehen wieder lernen. Ein Ort, wo die computergewöhnten, informationsbefriedigten jungen Augen der Kinder wieder lachen vor Staunen und wo die müde gewordenen Augen älterer Menschen wieder wahrzunehmen beginnen. Eine solche Bude gibt es. Man findet sie im letzten Buch der Bibel, im Buch der Offenbarung des Johannes. Am Anfang dieses Buches der Offenbarung gibt es sieben Briefe. Es sind Briefe an sieben christliche Gemeinden. Ein Brief ist an die Gemeinde in Laodizea gerichtet. Sie muss eine ziemlich langweilige "Pfarre" gewesen sein. Die Gemeindemitglieder werden als sehr mittelmäßige Leute dargestellt, als Menschen, die weder kalt noch heiß sind. Armselig, nackt und blind: So werden diese faden Typen dargestellt. Und sie bekommen den Rat, dagegen etwas zu tun. Das Richtige sollen sie kaufen: durch Feuer geläutertes Gold gegen die Armseligkeit, weiße Kleider gegen die Nacktheit. Und auch gegen die Blindheit sollten sie etwas unternehmen, die Menschen aus Laodizea. Laodizea, war damals ein berühmter Ort für die Heilung von Augenkrankheiten. So wie heute in Wien Menschen mit Augenproblemen zu den Barmherzigen Brüdern rennen, weil ihr Spital diesbezüglich einen außerordentlich guten Ruf hat, so ist man damals nach Laodizea gefahren. Dort wurde ein besonderes Pulver gegen Augenkrankheiten hergestellt. Es wurde aus Gestein in der Gegend gemahlen. Gegen diesen Hintergrund steht nun die dritte Kaufempfehlung. .Nicht nur Gold und Kleider wären notwendig, sondern "... kaufe Salbe für deine Augen, damit du sehen kannst." Eine solche Salbe für deine Augen - damit du sehen kannst -, die möchte ich dir gerne in meiner Bude am Christkindlmarkt verkaufen.

Es war im Warteraum einer Augenambulanz eines größeren Wiener Krankenhauses. Viele Leute warteten, manche mürrisch, andere eher voller Sorge und Angst. Bei einem Augenleiden hat man bald Angst, das Augenlicht zu verlieren. Dann setzte sich eine ältere, einfache Frau zu den Wartenden. Ungefragt fing sie von einer gelungenen Augenoperation zu erzählen an. Sie sei jetzt nur noch zur Kontrolle hier. Jetzt kann ich wieder sehen wie früher!", sagte sie vor Freude strahlend. "Es ist ein Wunder!"

Erst wenn das Sehen bedroht ist, versteht man, was Sehen bedeutet. Es gibt eine altlateinische Trostschrift, eine "consolatio", für einen, der blind geworden war. Der überkluge Autor "tröstet" mit der Meinung, es sei das Sehen gar nicht so wichtig. Sehen sei etwas ganz Banales, fast Minderwertiges. Auch Mäuse und Eidechsen haben Augen, also habe man sich nicht aufzuregen, wenn man etwas verliert, was man mit Mäusen teilt ... Ich denke, dass die einfache Frau im Wartezimmer besser als jener lateinische Gelehrte verstanden hat, was Sehen für Menschen bedeutet: Es ist ein Wunder! Auch das Johannes-Evangelium spricht viel von der Bedeutung des Sehens. Man weiß nicht so genau, wie und wo dieses vierte Evangelium entstanden ist. Früher hat man vor allem den Einfluss des griechischen Denkens in diesem Text wahrgenommen. Heute hat man die starke jüdische Prägung dieses Evangeliums neu entdeckt. So ist der Entstehungsort wohl an der jüdisch-griechischen Grenze im Norden Palästinas zu suchen. In Galiläa oder eher noch in Syrien. Hier muss es eine christliche Gemeinde gegeben haben, an deren Anfang die Verkündigung des Apostels Johannes gestanden war. Aus dieser Johanneischen Schule" stammt dieses Evangelium: aus mündlicher Tradition, aus einigen schriftlichen Sammlungen; und das alles in der Nachdenklichkeit einer Gemeinde an der Grenze zwischen jüdischem und griechischem Denken. Der Begriff "sehen" hat diese Gemeinde fasziniert. Man kann das ganze Johannes-Evangelium mit einem Satz aus dem Prolog zusammenessen: "Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit geschaut." Das ist ein Satz über das Sehen.

Es ist nicht der einzige. Eine zentrale Geschichte dieses Evangeliums ist die Heilung eines Blindgeborenen. Das ist auch eine Geschichte, wie ein Mensch zum Glauben kommt. Sehen ist nicht nur ein biologischer Vorgang. Sehen ist auch: sehen mit den Augen der Seele. Sehen ist im Sprachgebrauch dieser johanneischen Schule ein anderes Wort für glauben. Etwas, das weit über das Sehen der Mäuse und Eidechsen hinausgeht. Tatsächlich, sehen ist ein Wunder. Der Satz: "Wir haben seine Herrlichkeit geschaut", bringt das Staunen zur Sprache, dass Menschen mit menschlichen Augen das Fleisch gewordene Wort Gottes gesehen haben und nun rufen: Es ist ein Wunder.

Der griechische Dichter Odysseas Elytis ist ein Dichter des Lichtes. Trotz des Nobelpreises für Literatur ist er bei uns kaum bekannt. Das ist schade, denn für das eigenartige Werk dieses Dichters gibt es im deutschen Sprachraum nichts Entsprechendes.

Ein Hauptthema seines Werkes ist die Sonne, das Licht. Seine Gedichte sind oft wie aneinander gereihte Bilder aus der Natur : Möwen, Strand, Granatäpfel, Eidechsen. Und immer über dies alles: die griechische Sonne.

Ein Beispiel aus "llios o. protos" (Sonne die erste): "Eine lange Zeit ist vergangen, seit der letzte Regen gehört wurde ... Über den Ameisen und Eidechsen brennt nun endlos die Sonne. Die Poren der Erde gehen langsam auf... ? Eine Riesenpflanze starrt in das Auge der Sonne."

Sein Hauptwerk To axion esti (es ist würdig) wurde auch durch die Vertonung von Mikis Theodorakis bekannt. Der Titel ist der Liturgie entnommen. Auch sonst enthält das Werk viele liturgische und biblische Anklänge. Dennoch schreibt Elytis keine religiöse Poesie. Er schreibt aus einer hellsichtigen Bewusstheit, die ihn zur Ursprünglichkeit der Dinge führt. Von hier ist es zum Ursprung, zum Schöpfer ein kleiner Weg. So weit mir bekannt, geht er aber diesen Weg nicht.

Dieses ursprüngliche Sehen ist uns fremd geworden. Aber nur weil uns die griechische Sonne fehlt? Das Werk von Elytis ist nicht nur aus äußerem Anlass entstanden, sondern wohl eher weil hier ein Mensch mit sehendem Herzen spricht. Wie es bei Elytis heißt: "Ein Blick zur Welt, die entsteht nach dem Maß des Herzens."

Ist unser Herz nicht oft zu klein bemessen, von uns oft nur auf Belanglosigkeiten eingeengt, so dass wir nicht mehr sehen?

Unsere Engherzigkeit macht uns kurzsichtig. Unser Blick sieht nicht mehr, in Ehrfurcht. die Schöpfung, schwer erhebt sich das Herz in Anbetung des Schöpfers. "700 Intellektuelle beten einen Ö1tank an", heißt es spöttisch bei Brecht. Statt Öltank können wir auch sagen: Terminkalender, Auto, Urlaub. "Die verratene Anbetung" nennt sich ein Buch, das den Fehlern unserer Zeit auf die Spur zu kommen versucht. Die Anbetung des Schöpfers wurde auch wohl von uns verraten. In vielen Gebeten der Kirche wandert der Blick zwischen Schöpfung und Schöpfer, in Psalmen, im Vaterunser. Mitten in der Feier der Eucharistie sprechen, singen wir: Erfüllt sind Himmel und Erde von Deiner Herrlichkeit. Besonders im Stundengebet (Breviergebet) schaut der Blick des Betenden auf das Licht der Tageszeit und wendet dann den Blick auf den Schenker des Lichtes.

So betet er am Anfang des Tages: ... dass mit dem Licht des neuen Tages auch unser Herz sich neu erhellt. Am Nachmittag sieht er: Schon neigt der Tag dem Abend zu, die Schatten werden länger Und am Abend betet er: Bevor des Tages Licht vergeht, o Herr der Welt hör dies Gebet... Dichter Iehren uns das Sehen. Beter aber sehen über das Sichtbare hinaus.

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